Foto: Philipp Heitzinger

 

 

 

Predigt zum Gottesdienst in der Reformierten Stadtkirche
gemeinsam mit der Erlöserkirche
am 6. Aug. 2023 von Pfr. Johannes Wittich


Predigt: Kohelet 3, 16-17 und 4, 1-3

16 Und weiter sah ich unter der Sonne: Zur Stätte des Rechts dringt das Unrecht vor, und zur Stätte der Gerechtigkeit das Unrecht.
17 Ich sagte mir: Den Gerechten und den Frevler wird Gott richten. Denn Zeit gibt es für jegliches Vorhaben und so auch für alles, was dort geschieht.

1 Und wiederum sah ich all die Unterdrückung, die unter der Sonne verübt wird. Und sieh: die Tränen der Unterdrückten, und sie haben keinen, der sie tröstet. Und von der Hand ihrer Unterdrücker geht Gewalt aus, und sie haben keinen, der sie tröstet.
2 Da pries ich die Toten, die schon gestorben sind, glücklicher als die Lebenden, die noch da sind.
3 Besser als beide aber hat es, wer noch nicht da war, wer das böse Tun noch nicht gesehen hat, das unter der Sonne verübt wird.

Liebe Gemeinde!

Das Buch Kohelet, oder „Prediger“, wie es auch genannt wird, ist schon ein recht eigenwilliger Teil unserer Bibel. Wir erfahren da von einem klugen Menschen, was seiner Meinung nach ein gutes Leben ausmacht. Kurz vor dem gerade gehörten Abschnitt, in dem berühmten „Alles hat seine Zeit“ – Text, wird der Sinn des Lebens so auf den Punkt gebracht: „Ich erkannte, dass die Menschen nichts Besseres zustande bringen, als sich zu freuen und Gutes zu tun im Leben. Und wenn irgendein Mensch bei all seiner Mühe isst und trinkt und Gutes genießt, ist auch dies ein Geschenk Gottes.“

Kohelet, der „Prediger“ ist also sozusagen der Genussmensch unserer Bibel. Sehr sympathisch, was er zu sagen hat: freu dich am Leben und an allem Guten, dass es dir zu geben in der Lage ist. Genieß es – das ist dein göttlicher Auftrag.

Aber: genieße es, und schau, dass auch andere zu ihrem wohlverdienten Genuss kommen. Denn auch das ist Gottes Wille: dass es allen gut geht. Und wo das nicht so ist, ist etwas zu tun.

Denn: die gerade gehörten Sätze unseres Predigttexts klingen wie ein Gegenkonzept zum Auftrag, das Leben freudig zu genießen. Da geht es um Unterdrückung, um die Boshaftigkeit der Unterdrücker und die Tränen der Unterdrückten. Da geht es darum, dass diese leidenden Menschen niemanden haben, der sie tröstet. Das ganze Unheil und Leid dieser Welt, wir wie es auch heute nur zu gut kennen, das sieht Kohelet, und kommt zu dem Schluss: wie gut haben es diejenigen, die nicht mehr leben oder, noch besser, noch gar nicht geboren wurden. Denen bleibt es erspart, sich das Alles anschauen zu müssen.

Also gerade noch: Genussmensch – und wenige Augenblick später: eine Sicht auf die Welt, wie sie dunkler nicht sein könnte. Wie passt das zusammen? Ein Mensch mit extremen Stimmungsschwankungen? Oder vielleicht doch die zwei Seiten ein und derselben Medaille?

Szenenwechsel – in eine Epoche Jahrhunderte nach dem Prediger, in die Zeit des Dreißigjährigen Krieges. Wir wissen alle: eines der dunkelsten Kapitel der europäischen Geschichte. Auf diese Zeit bin ich ausgerechnet in meinem gerade zu Ende gegangenen Urlaub gestoßen, im Salzkammergut, in der Nähe von Gmunden. Der Ort heißt Pinsdorf und war 1626 der Schauplatz einer grauslichen Schlacht des so genannten oberösterreichischen Bauernkriegs, und der Gedenkstein, an dem ich bzw. wir eher zufällig vorbeigeradelt sind, steht an der Stelle, an der mehrere hundert getötete Bauern verscharrt worden sind.

Nicht irgendwelche Bauern, sondern evangelische Bauern, die sich gegen die Unterdrückung ihres Glaubens zur Wehr gesetzt haben. Was für sie Hand in Hand gegangen ist mit dem Einsatz auch für gesellschaftliche und politische Gerechtigkeit. Das System der erdrückenden Abgaben an die Herrschenden, des Frondienstes, das war für sie nicht nur irgendeine Ungerechtigkeit. Das stand für sie ganz eindeutig dem Willen Gottes entgegen. Da musste etwas getan werden.

Wir sind in der Zeit der Rekatholisierung Österreichs, nach der zunächst überaus erfolgreichen Verbreitung der Reformation. In Oberösterreich gab es für die katholischen Herrscher besonders viel zu tun, war doch der Protestantismus tief im Volk verankert. Auslöser des Krieges war, dass der (katholische) bayrische Stadthalter die Anführer der Aufständischen nach einem ersten Scharmützel festnehmen hatte lassen. Versprochen wurde eine Begnadigung; tatsächlich mussten die Gefangenen gegeneinander im Würfelspiel antreten, und wer verlor, wurde nicht begnadigt, sondern hingerichtet. Bis heute wird im oberösterreichischen Frankenburg an diese Grausamkeit erinnert, auch durch eine szenische Darstellung der Ereignisse alle paar Jahre.

Ich kann mir gut vorstellen, dass sich damals im Moment dieses schrecklichen Ereignisses manch ein Augenzeuge, ganz so wie der Prediger, auch gedacht hat: wie gut haben es die, die das nicht mehr erleben müssen. Oder noch besser die, die noch gar nicht geboren sind, um so etwas zu sehen.

Denn, was der Prediger macht, ist ja gerade, genau hinzusehen, was alles in dieser Welt passiert. Was dafür sorgt, dass Menschen Angst haben, unterdrückt oder ihrer Freiheit beraubt werden und auch wer dafür verantwortlich ist. Und zu dieser Freiheit gehört auch die Freiheit des Glaubens. Denn glauben zu können, und seinen Glauben an einen liebenden, stärkenden und tröstenden Gott leben zu dürfen, das ist doch auch ein ganz besonderer Genuss. Ein Plus an Lebensfreude.

Die protestantischen Bauern in Oberösterreich damals haben sich ihren Glauben nicht nehmen lassen. Ihr Anführer war ein gewisser Stefan Fadinger, ja, genau der, nach dem ein Platz in Favoriten benannt ist, die Endstation der Straßenbahnlinie 1. Bei Stefan Fadinger war es so, dass er das Unrecht und Elend gesehen hat und etwas dagegen tun wollte, allerdings auf keinen Fall als Anführer. Dazu musste er schon ein bisserl gedrängt werden. Und so war sein Wahlspruch: „Es muss sein“. Nicht weil ihn andere dazu gezwungen hatten, sondern weil es die Gerechtigkeit verlangte. Übrigens, habe ich mir sagen lassen, gibt es in manchen Gegenden Oberösterreichs noch den Begriff „Fadingerhochzeit“, nämlich dann, wenn das Paar heiratet, weil bereits ein Kind unterwegs ist. „Fadingerhochzeit“ – getreu dem Wahlspruch von Stefan Fadinger: „Es muss sein.“

Auf dem Gedenkstein in Pinsdorf bei Gmunden für die getöteten protestantischen Bauern findet sich übrigens nirgends das Wort „evangelisch“ oder „protestantisch“. Nicht einmal auf der erklärenden Tafel daneben. Das ist schon erstaunlich. Was es gibt, ist ein Gedicht des evangelischen Pfarrers von Gmunden zur Zeit der Errichtung. Heute ist es am Gedenkstein befestigt, auch ursprünglich war es das – allerdings nicht lange: der Verfasser hatte es gewagt, in einer einzigen Textzeile anzusprechen, dass es den Bauern um ihren Glauben gegangen sei. Das wurde, Ende des 19. Jahrhunderts, als, Zitat, „Verherrlichung des Protestantismus“ gewertet. Heute hängt die Tafel wieder. Allerdings findet sich noch immer kein Hinweis darauf, dass die aufständischen Bauern evangelisch waren.

Für mich ein interessanter Aspekt. Wenn man uns als Evangelische, oder die, die vor uns schon evangelisch gewesen sind, nicht zu schätzen und zu würdigen weiß, wirklich tragisch ist das nicht. Vielleicht ärgerlich. Aber wir werden ja nicht diskriminiert oder gar verfolgt, und weithin ja auch mit dem, was wir tun und wofür wir stehen als lutherische oder reformierte Protestanten in Österreich ernst genommen oder sogar ausdrücklich geschätzt. Auch für unsere Überzeugung, dass noch so frommer Glaube ohne Sinn für Gerechtigkeit nicht passt.

Aber gerade aus diesem „frommen Sinn für Gerechtigkeit“ heraus frage ich mich, welche Menschengruppen heute, bewusst oder unbewusst, übersehen werden. Die das nicht so locker wegstecken können. Welche „Tränen der Unterdrückten“, wie es bei Kohelet heißt, ignoriert werden. Wessen Beitrag zu unserem Zusammenleben man bewusst nicht sehen oder gar würdigen will. Ich glaube, da fällt jedem und jeder von uns das eine oder andere Beispiel ein, von Menschen einer bestimmten Religion oder Herkunft …

Wobei: über Gedenkorte unterschwellig Zeichen zu setzen, das gibt es auch umgekehrt, auch gegen unsere katholische Schwesterkirche gerichtet. Wieder zurück zu Stefan Fadinger, zumindest zum heute nach ihm benannten Platz in Wien. Dort ist 1929, in politisch angespannten Zeiten zwischen katholischer Kirche und Arbeiterschaft, mitten in einem noch fertig zu stellenden Arbeiterwohnprojekt, eine große katholische Kirche eröffnet worden: Maria vom Berge Karmel. Plätze und Straßen um die Kirche herum hatten noch keine Namen, und so waren diese noch durch die sozialdemokratische Wiener Stadtregierung festzulegen. Sie ahnen vielleicht schon, was kommt: der Platz vor der neuen, großen, beeindruckenden katholischen Kirche bekommt am 19. März 1930, also wenige Wochen nach der Kircheneinweihung, den Namen eines oberösterreichischen protestantischen Bauernführers, der sich gegen katholische Bevormundung zur Wehr gesetzt hat, eben den von Stefan Fadinger. Als ob das nicht genug gewesen wäre: die Straße hinter der Kirche wird am selben Tag nach Erasmus Hofinger, evangelischem Aufständischen aus Salzburg, die Straße links davon nach Michael Gaißmayr, Protestantenführer aus Tirol benannt. Und, als absolutes Highlight: die Straße, die auf die Kirche hinführt, ist die Thomas Münzer-Gasse. Thomas Münzer, Persönlichkeit aus der Zeit der Reformation, auch in Bauernaufstände involviert und sogar Martin Luther zu wild.

Heute heißt die Kirche „Maria vom Berge Karmel“ „Mor Ephrem“, ist syrisch orthodox, und den Gottesdienst feiern vor allem Flüchtlinge aus dem syrischen Bürgerkrieg. Die die von Kohelet angesprochenen Ungerechtigkeiten und Tränen aus nächster Erfahrung kennen.

Wenn ich mir das so anschaue, dann bin ich froh, dass wir, zumindest bei uns, über die Zeiten dieses kleinlichen Aufrechnens und Stichelns zwischen den Konfessionen hinweg sind. Stellung beziehen, für einen freimachenden Glauben, das geht anders, und auch so, dass möglichst viele Menschen mitkönnen. Das geht auch mit viel mehr Gelassenheit. Im Wissen, das auch schon Kohelet, der Prediger hatte: wesentlich ist es, die vielfältigen Gaben und Segnungen des Lebens wertzuschätzen und zu genießen. Aus der Großzügigkeit Gottes uns gegenüber können wir dann selbst großzügig zu sein.

Schauen wir auf Gottes Großzügigkeit – und vermiesen wir einander nicht das Leben. Selbst im Gottesdienst essen, trinken und genießen wir beim Abendmahl, das wir gleich feiern werden. Im Sinne Jesu, der als Fresser und Weinsäufer kritisiert wurde, weil er sich so gerne mit anderen Menschen an einen Tisch gesetzt hat. Um ein Zeichen zu setzen. Geben wir doch als reich Beschenkte die Großzügigkeit Gottes weiter. Damit vielleicht doch die eine oder andere Träne der Unterdrückten und ungerecht Behandelten abgewischt werden kann.

Amen.