Foto: Franz Radner

 

 

 

Online-Gottesdienst zum Feiern zu Hause
aus der reformierten Erlöserkirche am 28. August 2022
mit Pfr. Johannes Wittich


Präludium: Juliane Schleehahn: “Album für die Jugend” p68 von Robert Schumann (1810 – 1856)
Lied: Evangelisches Gesangbuch 133, 1.4.5: Zieh ein zu deinen Toren

1) Zieh ein zu deinen Toren,
sei meines Herzens Gast,
der du, da ich verloren,
mich neugeboren hast,
o hochgeliebter Geist
des Vaters und des Sohnes,
mit beiden gleichen Thrones,
mit beiden gleich gepreist.

4) Du bist ein Geist, der lehret
wie man recht beten soll,
dein Beten wird erhöret,
dein Singen klinget wohl;
es steigt zum Himmel an,
es steigt und lässt nicht abe,
bis der geholfen habe
der allen helfen kann.

5) Du bist ein Geist der Freuden,
vom Trauern hältst du nicht,
erleuchtest uns im Leiden
mit deines Trostes Licht.
Ach ja, wie manches Mal
hast du mit süßen Worten
mir aufgetan die Pforten
zum güldnen Freudensaa!

Spruch: Gal 6,2:

Tragt einer des andern Last, so werdet ihr das Gesetz Christi erfüllen.

Begrüßung:

Wie gut, dass wir einander haben, unsere Familie, unsere Freundinnen und Freunde, unsere Gemeinde. Denn so können wir einander begleiten, stützen, Orientierung sein und Trost. Was so selbstverständlich, und so selbstverständlich gut ist, ist das „Gesetz Christi“, meint der Galaterbrief. An Jesus Christus orientieren wir uns, wenn wir uns einen Moment der Ruhe und des Nachdenkens gönnen, im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes …

Gebet:

Gott, du siehst uns, wie wir sind.
Du siehst, was wir anrichten.
Du siehst, wo wir mit Fingern auf andere zeigen.
Beides sind wir: Schuldig und selbstgerecht.
Aus diesem Widerspruch finden wir nicht selbst heraus
Du hörst uns in deiner grenzenlosen Barmherzigkeit,
wenn wir klagen.
Vor dir können wir leben,
mit dir können wir neu anfangen.
Barmherziger Gott,
wo sollen wir denn hin, wenn nicht zu dir?
Wo sollten wir denn hin,
wenn es nur Verurteilungen gäbe oder Gleichgültigkeit?
Zu dir können wir kommen
und eintauchen in deine grundlose Barmherzigkeit.
Und lass uns großzügig miteinander sein,
wie du großzügig bist in deiner Liebe.
Amen
.

Predigttext: Lukasevangelium 6,36-42:

36 Seid barmherzig, wie euer Vater barmherzig ist! 37 Richtet nicht, und ihr werdet nicht gerichtet. Verurteilt nicht, und ihr werdet nicht verurteilt. Lasst frei, und ihr werdet freigelassen werden! 38 Gebt, und es wird euch gegeben werden: ein gutes, festgedrücktes, gerütteltes und übervolles Mass wird man euch in den Schoss schütten. Denn mit dem Mass, mit dem ihr messt, wird auch euch zugemessen werden. 39 Er gab ihnen auch ein Gleichnis: Kann etwa ein Blinder einen Blinden führen? Werden sie nicht beide in die Grube fallen? 40 Kein Jünger steht über dem Meister. Jeder aber wird, wenn er ausgebildet ist, sein wie sein Meister. 41 Was siehst du den Splitter im Auge deines Bruders, den Balken im eigenen Auge aber nimmst du nicht wahr? 42 Wie kannst du zu deinem Bruder sagen: Bruder, komm, ich will den Splitter in deinem Auge herausziehen, während du den Balken in deinem Auge nicht siehst? Du Heuchler! Zieh zuerst den Balken aus deinem Auge, dann wirst du klar genug sehen, um den Splitter im Auge deines Bruders herauszuziehen.

Predigtgedanken:

Liebe Gemeinde!

„Also – des is nimma christlich.“ Wir alle kennen diesen Satz. Was immer es ist, das Wetter, das Verhalten bestimmter Mitmenschen, die Belastungen des Lebens. Wenn etwas zu viel wird, dann ist es, gut wienerisch, „nimma christlich“. Womit sich für mich die Frage stellt. Wenn der Wiener Volksmund so genau weiß, was „nimma christlich“ ist, was ist dann im Gegenzug – nach diesem Verständnis – eigentlich oder wirklich christlich. Wenn ich mich über das, was „nimma christlich“ ist an das heranpirsche, was wohl dann „wirklich christlich“ ist, dann drängt sich mir ein Verdacht auf. Christlich, nach allgemeinem Verständnis, ist dann etwas, was nett, nicht weiter störend, friedlich ist. „Christlich“ also als Summe aller Dinge, die angenehm sind: Nettes Wetter, nicht zu viel von irgendwas, aber auch nicht zu wenig, höfliche Mitmenschen, nicht zu viel Aufregung im Leben.

Ich glaube ich brauche gar nicht viel weiter zu philosophieren über die Verwendung des Wortes „christlich“ im allgemeinen Sprachgebrauch. Sie ist schlicht und ergreifend falsch, außer, wir gehen davon aus, dass mit „christlich“ immer der Weg des geringsten Widerstands und des faulsten Kompromisses gemeint ist. Dem ist aber nicht so, wie wir alle wissen. Christlicher Glaube hat seine Ecken und Kanten, auch ganz und gar nicht angenehme. Nehmen wir nur das radikale Gebot der Feindesliebe. Liebe deine Feinde. Ich kann mir manch einen Zeitgenossen vorstellen, der, wenn man ihn dazu auffordert, die Leute zu lieben, die ihm besonders auf den Wecker gehen, antworten wird: „Heast, was du da da von mir verlangst, des is oba nimma christlich.“

Doch: „Des is christlich.“ Auch wenn’s manche nicht glauben wollen. Feindesliebe, ist wahres christliches Verhalten. Und, wir merken es schon: Da geht es um mehr als nur gefälliges „nett-miteinander-sein.“ Das ist harte Überwindung, eine Provokation in einer Welt von „Wie du mir, so ich dir“.

Ja, wirklich christlicher Umgang miteinander ist nicht einfach. Das merken wir in den Sätzen Jesu, die wir gerade gehört haben. Da geht es um einen anderen Aspekt, aber wieder um ein großes, hehres, ja, unerreichbar wirkendes Ziel: Nicht übereinander Urteilen. Nicht einander verurteilen, das, z.B., sollen wir.

Das wohl stärkste Bild in diesen Sätzen ist das vom Splitter und vom Balken. Diese Formulierung springt einem buchstäblich ins Auge. Nur zu verständlich, dass dieses Jesuszitat ein Sprichwort geworden ist; und dennoch: Stimmt das so für uns, was da gesagt wird?

Es ist schon so, dass es angenehmer ist, den Splitter aus dem Auge des Bruders, der Schwester, zu entfernen. An den eigenen Balken zu rühren, würde ja wehtun. Und so beschäftigen wir uns alle, glaube ich, ganz gern mit den Problemen anderer Leute. Die Familie X. kommt mit ihren Kindern nicht zurecht – natürlich, die sind ja immer schon unglaublich verwöhnt worden. Frau Y. findet keine neue Stelle – ja, merkt sie denn nicht, wie schlecht sie sich präsentiert? Der Herr Z. hat einen Herzinfarkt – kein Wunder, so wie der vorher gelebt hat.

“Richtet nicht, so werdet ihr auch nicht gerichtet”, sagt Jesus, und da hat er Recht. Es gibt so ein Richten, so ein vorschnelles Aburteilen, das ist lieblos. Und gefährlich: Wie schnell entwickelt sich Aburteilen zum Schuss nach hinten. Plötzlich werden wir selbst Opfer unserer Fehler, obwohl wir es bei den anderen ja immer viel besser gewusst haben. Nur: Vor lauter Angst, selber einmal abgeurteilt zu werden, nichts zu sagen – ist das christliches Verhalten?

Aus Verantwortung sich mit den Schwächen des Mitmenschen beschäftigen – das ist durchaus christlich. Versuchen, ihn oder sie vor dem Schlimmsten zu bewahren, macht Sinn. Im vollen Bewusstsein: Ich weiß es nicht wirklich besser. Und schon gar nicht bin ich besser. Ich habe nur den anderen Blickwinkel eines Außenstehenden, oder Kraftreserven, die dem anderen schon ausgegangen sind, die ich aber anbieten kann. Mehr nicht. Denn die Grenze dann hin zum selbstgefälligen Aburteilen ist einen ganz eine dünne.

“Richtet nicht!” heißt dann für mich “Richtet nicht lieblos! Verurteilt nicht!” Aber wohltätig aufdecken können und müssen Christen schon. Jesus hat sich auch kein Blatt vor den Mund genommen, wenn es nötig war. Was wir mit dem Mantel christlicher Liebe zudecken, das gärt darunter und bricht dann irgendwann höchst unangenehm durch. Richtet das Unrecht, richtet mit liebevollem Herzen, aber richtet im Interesse unserer Welt!

Nun hat Jesus all das übers Richten und über Splitter und Balken mit einem Vorwort versehen. Dies Vorwort heißt: “Seid barmherzig, wie auch euer Vater barmherzig ist.” Unsere Kritik an uns und anderen stellt er so in einen Raum hinein, in den Raum von Gottes Barmherzigkeit. Das ist es, was oft fehlt: Gott schaut uns barmherzig an, das heißt mit liebevollen Augen. Seine Augen sehen wohl unser Unrecht und unsere mühsam darum errichtete Hülle. Aber Gott ist barmherzig, er reißt nicht ein, was wir gebaut haben. Gott ist barmherzig und eröffnet uns Chancen; er beurteilt, um Zukunft und Hoffnung zu ermöglichen, nicht um uns fertig zu machen. Selbst in den härtesten Angriffen, z.B. der Propheten, klingt die Verzweiflung eines lebenden Gottes durch: Seid doch nicht so schreckliche Menschen. Ändert euch, dann geht’s euch ja auch besser. Ich habe nicht gewollt, dass ihr so seid.

Also: Wenn Gott mir den Balken in meinem Auge deutlich und schmerzhaft erkennen lässt, dann gibt er mir auch Kraft, etwas Neues auszuprobieren. Indem er immer wieder sagt: Ich verurteile dich nicht. Vor mir brauchst du dich nicht zu verstecken. Du kannst zunächst einmal dazu stehen, dass du so bist, wie du bist. Stell dich deiner Selbsterkenntnis. Und setze damit einen Anfang, den wichtigsten Anfang zu Veränderung und dann auch Verbesserung.

Noch einmal: Bei Gott beginnt die Veränderung an uns nicht mit der Kritik, sondern mit der Barmherzigkeit. Gott macht sich kein Bild von uns, dem wir dann entsprechen müssten und in dem wir gefangen wären. Vielleicht ist das seine größte Barmherzigkeit. Gott sieht uns, wie wir sind – und liebt uns trotzdem. Und so können wir uns auch selber sehen, wie wir sind – und können das ertragen, weil wir uns von Gottes liebevollem Blick eingehüllt wissen. Gott resigniert niemals. Und so können wir dann doch etwas tun an uns selbst, etwas tun gegen den Balken in unserem Auge. Ich kann ein anderer werden unter Gottes barmherzigen Augen.

Amen.

Lied: Evangelisches Gesangbuch 436: Herr, gib uns deinen Frieden

Herr, gib uns deinen Frieden,
gib uns deinen Frieden,
Frieden, gib uns deinen Frieden, Herr,
gib uns deinen Frieden.

Gebet:

Unser Gott,
durch den Balken in unserem Auge
sehen wir unsere Mitmenschen oft nicht.
Wir sind blind für das, was sie brauchen.
So tritt du für uns ein.
Zeige deine Barmherzigkeit allen Menschen,
die auf dich warten.
Die Kranken und die Einsamen,
die Flüchtlinge und die Obdachlosen,
die Ausgegrenzten und die zu Unrecht verfolgten.
Und zeige deine Barmherzigkeit denen,
die eingesperrt sind in das Bild,
das sich andere von ihnen gemacht haben.
Zeige ihnen Wege hinaus.
Und, Gott, wenn du uns verwandelst,
wenn wir mit deiner Hilfe
den Balken aus unserem Auge entfernen können,
dann lass uns auch den oder die sehen, die unsere Hilfe brauchen.
Lass uns barmherzig sein, wie du barmherzig bist.

Gemeinsam bitten wir dich: Unser Vater

Segen:

Der Herr segne dich und behüte dich.
Der Herr lasse sein Angesicht leuchten über dir und sei dir gnädig.
Der Herr hebe sein Angesicht über dich und schenke dir Frieden
.
Amen.

Postludium: Juliane Schleehahn: Präludium a-Moll von Johann Sebastian Bach (1685 – 1750)