Foto: Franz Radner

 

 

Gottesdienst aus der reformierten Erlöserkirche,
Wien-Favoriten, am 2. Jänner 2022
mit Pfr. Johannes Wittich


Orgelvorspiel: Juliane Schleehahn
Lied: Evangelisches Gesangbuch, 39, 1-3: Kommt und lasst uns Christus ehren

1.) Kommt und lasst uns Christum ehren,
Herz und Sinnen zu ihm kehren;
singet fröhlich, lasst euch hören,
wertes Volk der Christenheit.

2.) Sünd und Hölle mag sich grämen,
Tod und Teufel mag sich schämen;
wir, die unser Heil annehmen,
werfen allen Kummer hin
.

3.) Sehet, was hat Gott gegeben:
seinen Sohn zum ewgen Leben.
Dieser kann und will uns heben
aus dem Leid ins Himmels Freud
.

Spruch: Jh. 1,16:

Aus seiner Fülle haben wir ja alle empfangen, Gnade um Gnade.

Begrüßung:

Wir stehen noch im Beginn eines neuen Jahres. Die vielen Jahresrückblicke stehen noch vor unserem inneren Auge, Rückblicke auf Gutes und weniger Gutes. Motiviert und voller Hoffnung gilt jetzt unser Blick dem, was vor uns steht.

Der Satz aus dem Johannesevangelium ist auch so etwas wie ein Rückblick, der nach vorne schaut. Eine Erkenntnis: unser Leben ist voll von der Gnade Gottes, von seinem guten Handeln an uns. Und wenn das so ist, so war, dann wird es auch weiter so sein. So beginnen wir diesen Gottesdienst, wie auch das neue Jahr, im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes.

Gebet:

Geheimnisvoller Gott!
Deine Größe erschreckt uns –
deshalb machen wir dich gerne klein,
damit du in unser Weltbild passt.
Du bist uns entzogen,
deshalb versuchen wir,
dich an uns zu ziehen,
Wenn wir dann merken,
dass du viel größer bist,
als wir uns vorstellen können,
dann fällt es uns schwer zu glauben,
dass du ausgerechnet mit uns etwas im Sinn hast.
Du hast dich uns zugewandt:
Als der Vater, der uns das Leben gibt,
als der Sohn, der uns mit seinem ganzen Leben liebt,
Du hast uns geschaffen,
du rufst uns zu neuem Leben durch deinen guten Geist.
Wir danken dir dafür.
Amen.

Lesung: Jes. 49, 13-18

13Frohlocke, Himmel, und juble, Erde!
Ihr Berge, brecht in Jubel aus,
denn der Herr tröstet sein Volk,
und seiner Elenden erbarmt er sich.
14Zion aber hat gesagt: Der Herr hat mich verlassen,
und vergessen hat mich der Herr.
15Würde eine Frau ihren Säugling vergessen,
ohne Erbarmen mit dem Kind ihres Leibs?
selbst wenn diese es vergessen würden,
werde doch ich dich nicht vergessen!
16Sieh, ich habe dich in die Handflächen geritzt,
stets sind deine Mauern mir vor Augen.
17Deine Söhne sind herbeigeeilt.
Die dich niedergerissen und verwüstet haben, ziehen weg von dir.
18Blicke auf, ringsum, und sieh:
Sie alle haben sich versammelt, zu dir sind sie gekommen.

Lied: Evangelisches Gesangbuch, 64, 1.2.6: Der du die Zeit in Händen hast
Predigt zu Jh. 3, 1-8

Es war aber einer unter den Pharisäern, sein Name war Nikodemus, einer vom Hohen Rat der Juden. 2Dieser kam zu ihm in der Nacht und sagte: Rabbi, wir wissen, dass du als Lehrer von Gott gekommen bist, denn niemand kann diese Zeichen tun, die du tust, wenn nicht Gott mit ihm ist. 3Jesus entgegnete ihm: Amen, amen, ich sage dir: Wer nicht von oben geboren wird, kann das Reich Gottes nicht sehen. 4Nikodemus sagt zu ihm: Wie kann denn ein Mensch geboren werden, wenn er alt ist? Er kann doch nicht ein zweites Mal in den Schoss der Mutter gelangen und geboren werden? 5Jesus antwortete: Amen, amen, ich sage dir: Wer nicht aus Wasser und Geist geboren wird, kann nicht in das Reich Gottes gelangen. 6Was aus dem Fleisch geboren ist, ist Fleisch, und was aus dem Geist geboren ist, ist Geist. 7Wundere dich nicht, dass ich dir gesagt habe: Ihr müsst von oben geboren werden. 8Der Wind weht, wo er will, und du hörst sein Sausen, weisst aber nicht, woher er kommt und wohin er geht. So ist es mit jedem, der aus dem Geist geboren ist.

Liebe Gemeinde,

eine eigentümliche Stimmung liegt über dieser Geschichte. Es ist die Begegnung zweier Menschen in der Dunkelheit, in der Nacht. Nikodemus, ein Pharisäer, ein religiöser Führer des Judentums zur Zeit Jesu, will diesen Jesus kennen lernen, mit ihm ins Gespräch kommen. Er spricht ihn als Rabbi an, als Lehrer im Glauben, und erwartet, selbst gebildet und fromm, von diesem Jesus etwas lernen zu können.

Mit gutem Grund kommt Nikodemus in der Nacht. Niemand soll ihn sehen, niemand soll die Peinlichkeit mitbekommen, dass er, der Gelehrte, den Zimmermann aus Nazareth um seine Meinung fragt. Eigentlich ziemlich feige, diese Einstellung, finde ich. Denn schließlich hat Nikodemus bereits eine sehr ausgeprägte Meinung von diesem Jesus, ist sich sicher, dass er von Gott gekommen ist, kann die Zeichen und Wunder, die Jesus schon getan hat ganz einfach nicht anders interpretieren als als Beweise, dass da wirklich ein Mensch von Gott befähigt und beauftragt ist, uns neue Einsichten zu bringen. Ja, als Gesandten Gottes sieht er Jesus. Und trotzdem: Er denkt nicht im Traum daran, diese Erkenntnis anderen mitzuteilen. Zu groß ist der Druck, der auf ihm lastet, die Verantwortung. Es geht um Erhaltung der Tradition, um das Sichern der bewährten Ordnung.

Aber: Für sich selbst, unabhängig von seiner Funktion, für seinen persönlichen Glauben, sucht er Jesus. Und führt mit ihm ein Gespräch, ein Lehrgespräch, wie es in der jüdischen Tradition gerne gepflegt wird. Gelehrte kommen zusammen und schauen, wie viel ihr Standpunkt wert ist, wenn er sich am Wissen und Können eines anderen reibt. Diese Tradition der angstfreien religiösen Debatte hat uns das Judentum eindeutig voraus. Ich sage deswegen „angstfrei“, weil in der Geschichte des Christentums eher die Tendenz vorherrschte, den religiösen Gegner mit dem Scheiterhaufen zu bedrohen. Die Debatten innerhalb des Christentums waren selten fair, weil der abweichlerische Diskussionspartner in der Regel Kopf und Kragen riskierte. Menschen wie Franz von Assisi, Johannes Hus, Martin Luther, Johannes Calvin, Galileo Galilei wussten ein Lied davon zu singen, wie wenig locker es sich debattiert, wenn im Hintergrund schon das Holz aufgestapelt wird.

So ein Lehrgespräch über den Glauben mit Jesus muss faszinierend gewesen sein. Allein: Es ist uns heute nicht mehr möglich, weil er uns so als Ansprechpartner nicht mehr zur Verfügung steht. Dennoch: Wir pflegen ja diese Tradition des Gespräches über den Glauben auch: Im Religions- und Konfirmandenunterricht, in Bibelgesprächen. Wo das geschieht, so denke ich, wird deutlich, dass wir voneinander profitieren können, von unterschiedlichen Glaubenserfahrungen und –zugängen, von unterschiedlichen Standpunkten und Perspektiven. Wir können das tun, weil Gott eben so viel an menschlichem Geist und Verstand und an Erkenntnis in diese Schöpfung hineingepackt hat, dass sich endlos daraus schöpfen lässt. Das heißt jetzt nicht, dass alles, was wir sagen, immer von göttlicher Intelligenz ist – ich denke, das wissen wir alle. Aber wie viel sich in einem ernsthaften aufeinander Hören entwickeln kann, das, denke ich, haben wir alle schon gemerkt.

So auch bei Nikodemus: Es geht um ein Eintauchen in neue Erkenntnisse, die mehr sind als nur Wissenserweiterung. Er möchte Eintauchen in Erkenntnisse, die ihn wirklich weiterbringen, die ihm helfen, sich selbst neu zu sehen und zu verstehen. Er ist bereit, auch zu Erkenntnissen zu kommen, die ihn erschüttern, ihn in Frage stellen, ihm möglicherweise für einen Augenblick den Boden unter den Füßen wegreißen. Wie gesagt, Nikodemus ist Pharisäer, gehört also zu einer Gruppe, die ein ganz klares, um nicht zu sagen, starres Glaubenssystem vertritt. Und so einer riskiert bei Jesus wirklich viel. Bei Jesus, der ja bekannt dafür ist, radikal Dinge in Frage zu stellen um dann ebenso radikal Gottes- und Menschenliebe zu fordern.

Mehr noch: Jesus spricht Dinge an, die mit dem menschlichen Verstand letztlich nicht zu fassen sind: Die neue Geburt, die dem Glaubenden von oben geschenkt wird. Unlogisch das Ganze. Wir werden nur einmal geboren und das ist es dann auch. So meint ja dann auch Nikodemus gleich: Wie kann ein Mensch noch einmal geboren werden? Das geht nicht, ein erwachsener Mensch kann nicht mehr in den Bauch seiner Mutter zurück. Und hat damit recht, zeigt sich als Meister der Logik, wischt alles Irrationale vom Tisch und fordert Jesus heraus.

Er fordert Jesus heraus, ihm, dem Logiker, die Logik richtiggehend zu zerlegen. Denn Nikodemus ist nicht auf der Suche nach logischer Erkenntnis. Er ist auf der Suche nach Sicherheit im Glauben, auf der Suche nach Stütze für das Leben, auf der Suche nach Nähe und Beziehung zu Gott. Mit der Widergeburt, die Jesus meint, wird er nicht gescheiter werden. Aber: Er wird trotzdem ein neuer Mensch sein. Weil Gott ihn dazu machen wird. Eine neue Existenz, das ist, was Jesus verspricht. Durch die Taufe.

Interessant ist ja schon: Es wird uns in der Bibel nicht berichtet, wie Nikodemus auf die Sätze Jesu reagiert hat. Nikodemus fragt, Jesus antwortet – mehr nicht. Angenommen wird, dass Nikodemus kein Jünger geworden ist; er taucht später zwei mal noch auf, ganz kurz, einmal, als er einen fairen Prozess für Jesus fordert und ein anderes Mal später dann, als er ein Spende macht, um den Leichnam Jesu einbalsamieren zu lassen. Man geht davon aus, dass er Sympathisant Jesu war und geblieben ist, niemals aber seine Position riskiert hat, die er zweifelsohne verloren hätte, wenn er sich offen als Anhänger Jesu deklariert hätte. Jesus macht nicht mehr, als ihm das Wagnis des Glaubens anzubieten, vorzustellen, ihm diese Möglichkeit zu eröffnen. Und ein Wagnis ist es, wenn, so wie Jesus sagt, der Geist Gottes wie der Wind bläst, mal da ist, mal dort, und wohl auch uns als Gläubige hin und her wehen kann.

Was aber immer da ist, ist dieses neu sein durch die Taufe. Im Geist Gottes wird diese Welt immer wieder neu belebt und wir mit ihr. Reich Gottes entsteht unter Menschen, die vom Geist Gottes berührt sind und seinen Willen tun. Was uns die Wiedergeburt durch die Taufe noch bringt: Sie nimmt uns die Angst. Selbst vor dem, was uns am meisten beängstigt, dem Tod. Gewiss: Mit unserer Sterblichkeit umgehen zu können, mit der Vergänglichkeit von Beziehungen und Freundschaften, die durch den Tod ein Ende finden, das gelingt uns nie vollkommen. Aber gerade wenn die Angst da ist, die Trauer können wir wissen: wir sind getauft. Wir tragen ein Zeichen Gottes an uns. Wir sind wiedergeboren, neu geboren, in einer Geburt, die menschliches Geboren-Sein übersteigt. Das erste, irdische Leben, kann uns genommen werden, wird uns genommen werden. Das zweite, neue, wiedergeborene Leben hat Bestand, für immer. Das kann uns niemand mehr nehmen. Dafür verbürgt sich Gott. Amen.

Lied: Evangelisches Gesangbuch, 636, 1-4: Selig seid ihr
Gebet:

Guter Gott,
Geheimnis des Lebens,
unser Woher und unser Wohin,
unser Ursprung und unser Ziel.
Du hast die Welt erschaffen – und alles, was lebt.
Du hast uns deine Schöpfung anvertraut.
Wir bitten dich: lass uns verantwortlich mit deiner Welt umgehen,
sodass auch Generationen nach uns sie als deine Schöpfung feiern können.
Durch deinen Sohn Jesus Christus hast du dich uns gezeigt.
Er verweist uns an unsere Mitmenschen
und ist darin unser Bruder geworden.
Lass uns diejenigen nicht vergessen,
die Unrecht und Gewalt erleiden.
Lass uns an den Armen – bei uns und in der Welt – nicht vorbei sehen.
Lass uns den Kranken und Trauernden nahe sein.
In der Taufe hast du uns deinen Geist gegeben.
Wir bitten dich: Schenke uns Erfahrungen deiner Nähe.
Gib uns Geistesgegenwart,
damit wir sehen, was andere nicht sehen können:
Gott, du Quelle allen Lebens,
Belebe unsere Gemeinschaft mit deinem Geist,
dass wir dir vertrauen.

Und gemeinsam beten wir …

Unser Vater im Himmel …

Segen:

Der Herr segne dich und behüte dich,
der Herr lasse sein Angesicht leuchten über dir und sei dir gnädig,
der Herr hebe sein Angesicht auf dich und gebe dir Frieden.
Amen.

Lied: Evangelisches Gesangbuch, EG: 171, 1.4: Bewahre, uns, Gott

Orgelnachspiel: Juliane Schleehahn: Praeludium in F-Dur von Johann Sebastian Bach (1685 – 1750)