Foto: Franz Radner

 

 

 

Gottesdienst aus der reformierten Erlöserkirche,
Wien-Favoriten, 8. November 2020
mit Pfr. Johannes Wittich


Orgelvorspiel: Martin Seidl: Toccata in a von Johannes Justus Will (1675-1747)
Spruch: Mt. 5,9:

Selig, die Frieden stiften – sie werden Söhne und Töchter Gottes genannt werden.

Begrüßung:

Wie gut, und wie passend, dass ausgerechnet dieser Satz aus der Bergpredigt der Spruch zum heutigen Sonntag ist. Friedensstifter und Friedensstifterinnen – wie sehr werden sie gebraucht: Der Hass, die Aggression, die Gewalt, die am letzten Montag beim Terroranschlag in unserer Stadt zu Tage getreten ist, haben uns das vor Augen geführt.

Friedenstifterinnen haben sich seither zu Wort gemeldet, auch und besonders aus den Reihen von Christen und Muslimen. Haben deutlich gemacht, dass es unser aller Auftrag ist, im Sinne Jesu Frieden zu stiften.

Trotzdem: wir haben Angst, wir sind verunsichert, wir erkennen, wie zerbrechlich Friede ist, auch bei uns hier, in unserer Stadt, in unserem Land. Wir suchen Gott, um unseren Kopf frei zu bekommen, um ihm unsere Angst mitzuteilen. Und finden ihn, wenn wir uns an ihn wenden, zu ihm beten, ihm vertrauen, gerade jetzt, wenn wir gemeinsam Gottesdienst feiern, im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes.

Psalm 102:

Wir beten mit den Worten des 102ten Psalms, dem „Gebet eines Elenden, wenn er verzagt und vor dem Herrn seine Sorge ausschüttet“, wie es im ersten Vers heißt:

2 Herr, höre mein Gebet,
mein Schreien dringe zu dir.
3 Verbirg dein Angesicht nicht vor mir
am Tag meiner Not.
Neige dein Ohr zu mir;
wenn ich rufe, erhöre mich bald.
4 Denn im Rauch sind meine Tage entschwunden,
wie im Feuer glühen meine Gebeine.
5 Versengt wie Kraut und verdorrt ist mein Herz,
ich vergesse gar, mein Brot zu essen.
6 Vor lauter Seufzen
bin ich nur Haut und Knochen.

12 Meine Tage sind wie lange Schatten,

13 Du aber, Herr, thronst ewig,
und dein Name bleibt von Generation zu Generation.
14 Du wirst aufstehen, dich Zions erbarmen.

16 Dann werden die Völker den Namen des Herrn fürchten
und alle Könige der Erde deine Herrlichkeit,
17 wenn der Herr Zion wieder gebaut hat
und erschienen ist in seiner Herrlichkeit,
18 wenn er sich zuwendet dem Gebet der Entblössten
und ihr Gebet nicht verachtet.
19 Das sei aufgeschrieben für eine künftige Generation,
und ein neu geschaffenes Volk wird den Herrn preisen,
20 wenn der Herr von seiner heiligen Höhe herabschaut,
vom Himmel auf die Erde blickt,
21 das Stöhnen der Gefangenen zu hören,
die dem Tod Geweihten zu befreien.
22 Dann wird man in Zion den Namen des Herrn verkünden
und sein Lob in Jerusalem,
23 wenn sich die Völker alle versammeln
und die Königreiche, um dem Herrn zu dienen.

28 Du aber bleibst derselbe,
und deine Jahre nehmen kein Ende.

Gebet:

Guter Gott,
immer schon haben Menschen zu dir gebetet,
die ratlos waren,
überfordert,
in Angst, vor allem vor dem, was kommen könnte.
So beten wir auch heute zu dir,
erschüttert und besorgt.
Unser Kopf schwirrt,
wir suchen Halt und Stütze.
Immer schon haben Menschen zu dir gebetet,
und geglaubt und gehofft,
dass du die Welt in deiner Hand hältst,
und mit ihr auch unser Leben.
Mit ihnen vertrauen wir auch heute dir,
dass du weißt, wohin es geht,
du da bist und uns führst,
mitten unter uns bist,
auch jetzt, in diesem Moment.
Dafür danken wir dir.
Amen.

Verlesung der Stellungnahme der Interreligiösen Dialoggruppe Favoriten

Wien-Favoriten, 5. November 2020
Als christliche und muslimische Gemeinden in Favoriten sind wir schockiert und entsetzt angesichts des schrecklichen terroristischen Anschlags am Montagabend in der Wiener Innenstadt. Besonders betroffen macht uns, dass der Täter offensichtlich versucht hat, seine Tat mit religiösen Motiven zu rechtfertigen.
Als Menschen unterschiedlicher Glaubensrichtungen und -traditionen halten wir fest: Religion kann und darf nie Rechtfertigung für Gewalt sein – darin stimmen unsere Glaubenslehren überein.
Ebenso wichtig ist es uns festzuhalten, dass uns die gemeinsame Überzeugung verbindet, dass Abwertung oder Verächtlichmachung einer anderen Glaubensüberzeugung mit den Grundsätzen unseres jeweiligen Glaubens nicht vereinbar ist. Daher gedenken wir in diesen Tagen auch gemeinsam der Novemberpogrome gegen Jüdinnen und Juden im Jahr 1938 und möchten damit ein deutliches Zeichen gegen jede Form des Antisemitismus setzen.
Wir wissen, dass unsere Glaubensüberzeugungen immer wieder auch missbräuchlich verwendet werden. Daher stellen wir uns gemeinsam als Bewohnerinnen und Bewohner eines multikulturellen und multireligiösen Bezirkes gegen jeden Versuch, Musliminnen und Muslime für den Terroranschlag in unserer Stadt für verantwortlich zu erklären. Ebenso verurteilen wir die Vorfälle in der Pfarrkirche St. Anton von Padua letzte Woche als unverantwortliche Störung des religiösen Friedens.
Diese Haltungen und Einstellungen widersprechen dem guten Miteinander, das wir als Religionsgemeinschaften in unserem Bezirk Favoriten pflegen. Gemeinsam verpflichten wir uns, diesen Weg weiterzugehen und uns aktiv zu bemühen, allen Formen von radikalem und ausgrenzendem Denken und Handeln, besonders in unseren eigenen Gemeinschaften, entgegen zu treten.
Wir verfassen diese öffentliche Stellungnahme, um den Bewohnerinnen und Bewohner unseres Bezirks mitzuteilen, wozu wir uns verpflichten und dass wir alle Menschen einladen, diesen Weg mit uns zu gehen. Deswegen werden wir diese Stellungnahme in unseren Medien und über unsere Medienkontakte veröffentlichen sowie in unseren Gebets- und Gottesdiensträumen verlesen lassen.

Islamisches Zentrum der Bosniaken von Österreich “Ebu Hanife“
Hadis Bosnjak (Imam), Suad Ferhatbegovic (Obmann) und Eldin Bajric (Schriftführer)

Evangelisch- Reformierte Pfarrgemeinde H.B. Wien-Süd
Johannes Wittich (Pfarrer), Robert Colditz (Kurator) Franz Radner

Islamische Föderation Anadolu
Mervan Mullaoglu (Imam), Salih Akkale (Obmann) und Hidayet Kilic

Katholische Pfarren und Gemeinden: Matthias Felber (Dechant und Pfarrer), Johannes Neubauer (Dechant Stellvertr. und Pfarrer), Artur Stepien (Pfarrer), Stephane Mwanza-Mpongo (Pfarrer), Cirilo Boloron (Pastoralassistent), Gerti Pieber und Monika Loiskandl

ATIB-Türkisch-Islamische Union für kulturelle und soziale Zusammenarbeit in Österreich
Ibrahim Olgun (Imam)

Syrisch-Orthodoxe Kirche Mor Ephrem
Emanuel Aydin (Chorbischof)

VTC Verein Tabiien Center – Tschetschenischer Kulturverein
Muslim Misirbiev (Obmann)

Evangelische Pfarrgemeinde AB Wien-Christuskirche
Michael Wolf (Pfarrer) und Livia Wonnerth-Stiller (Lehrvikarin)

Bahá’í Religionsgemeinschaft Österreich
Dagmar Khamooshi und Puria Mahally

Austria Bangladesch Cultural Center “Baitul Mamur Masjid” Favoriten
Abu Zafar (Obmann)

Orgelmusik: Martin Seidl: Sonatina de la cantate, Gottes Zeit ist die allerbeste Zeit, “Actus Tragicus” BWV 106 von Johann Sebastian Bach (1685-1750)

 

Liebe Gemeinde!

Sie ist nun verlesen, die Stellungnahme der Kirchen und Moscheen in Favoriten. So wie die Unterzeichnenden versprochen haben, es zu tun. Eine Stellungnahme, die gerade in diesen Tagen unbedingt nötig ist. Das haben auch die im interreligiösen Dialog Tätigen in unserer Gemeinde gefunden. Und daher auf so eine Erklärung gedrängt.

Sie endet mit einem bunten Mix von Unterzeichnenden. Die in vielen religiösen und theologischen Fragen nicht unbedingt übereinstimmen. Ja, in grundlegenden Fragen deutlich unterschiedliche Auffassungen haben. Es gibt schon einen Grund, warum es lutherische, reformierte und katholische Kirchen gibt. Die islamischen Moscheen sind auch nicht eine homogene Gruppe. Ganz abgesehen vom unterschiedlichen Herkunftsland der Mitglieder gibt auch dort Diskussionen, wie der Koran und die Traditionen richtig zu verstehen seien. Und die Bahai-Religionsgemeinschaft, im 19. Jahrhundert erst entstanden, sieht sich zwar als Versuch, die Lehren von Juden, Christen und Muslimen zu vereinen. Mit dem Ergebnis, das sie von allen dreien nicht als ihresgleichen anerkannt werden.

Verschiedenheit kann Bereicherung sein, soll es auch, ist es aber oft nicht. Verschiedenheit ist auch Grund für Konflikte. Verschiedenheit trennt, irritiert, ja lässt Ablehnung, Distanz, gerne auch mal Arroganz und Überheblichkeit entstehen: „Ach, wie falsch die Anderen doch liegen mit ihrem Glauben und Denken!“

„Dann wird man in Zion den Namen des Herrn verkünden und sein Lob in Jerusalem,
wenn sich die Völker alle versammeln und die Königreiche, um dem Herrn zu dienen.“ Wir haben es gerade mit den Worten des 102. Psalms gebetet. Der Psalm – eine Klage über Krieg, Unterdrückung, Konflikt, über alles, was Menschen einander antun. Eine Klage, an Gott gerichtet: sieh doch, wie es uns geht. Eine Klage, fest darauf vertrauend: Gott hört mich.

Ein Gebet, das aber interessanter Weise nicht verlangt: „Mach, Gott, dass das Alles aufhört.“ Nein, das Schlimme, Unverständliche und Irritierende ist nun einmal da. Es wird nicht einfach nur so verschwinden. Das Gebet des 102. Psalms ist nicht eine „Bestellung“ bei Gott, was er alles tun soll, kein „Wunschzettel“ mit der Hoffnung, dass alles so werden muss, wie ich es gerne hätte.

Nein, der Psalmbeter weiß um den Zustand der Welt. Ist davon überzeugt, dass Gott ganz genau weiß, wie es hier unter seinen Menschen zugeht. Glaubt fest, dass Gott einmal eingreifen wird. Nicht, um Interessen von einzelnen Menschen oder Menschengruppen zu vertreten. Nein, um eine neue Gerechtigkeit zu etablieren, eine große, umfassende Gerechtigkeit, die für alle gilt. Unter dieser neuen Gerechtigkeit zahlen vielleicht einige drauf, nämlich die, die von der bisherigen Ungerechtigkeit profitiert haben. Aber für alle an den Rand Gedrängten, ihrer Rechte Beraubten, für die „Gefangenen und Todgeweihten“, wie der Psalm sagt, wird es endlich gut werden.

„Das biblische Bild dafür ist die Versammlung aller Völker und ihrer Könige am Zion, am Tempelberg in Jerusalem. Allen wir die neue Gerechtigkeit gelten, der ganzen Welt, nicht nur einigen wenigen Auserwählten. Alle werden Gott erkennen, ist die Botschaft, den einen, einzigen Gott, der hinter allem steht, was wir erfassen können.

Auch wenn dieses Bild von der Versammlung aller Völker am Berg Gottes, in seinem Tempel zunächst einmal von jüdischen Vorstellungen geprägt ist, ist es doch universell. Es geht nicht darum, dass mein Gott, so wie ich ihn mir vorstelle, alle versammeln wird. Vielmehr ist es der Gott aller, der so groß ist, dass Einzelne, selbst die Angehörigen einer ganze Glaubensrichtung zusammen, ihn nie vollständig erkennen könne.

Der Gott aller Menschen, der Gott aller Glaubensrichtungen führt zusammen. Eine Vision – zu schön um wahr zu sein. Ein Zustand, der wohl nie erreicht werden wird, und wenn, dann nur in einer nicht vorstellbar weit entfernten Zukunft.

Aber Visionen, Träume sind ja dazu da, zu inspirieren. Unserer Hoffnung Nahrung zu geben. Um zu erkennen, wo ein bisserl schon jetzt das möglich wird, was im Psalm als Zukunftsbild gezeichnet wird: die Menschheit versammelt unter der Gerechtigkeit ihres einen Gottes.

Für mich ist unsere gemeinsame Stellungnahme so ein Moment, in dem diese Vision schon ein wenig Realität geworden ist. Nur ein wenig, nicht mehr. Es haben sich nicht große Völkerscharen am Zion, am Gottesberg in Jerusalem versammelt. Aber doch Menschen guten Willens, coronabedingt über Videokonferenz, auf dem Boden unseres Bezirkes.

Gott wird da auch seine Hand im Spiel gehabt haben. Das ist es zumindest, was ich fest glaube. Amen.

Gebet: 

Guter Gott,
Friedenstifter sollen wir sein,
und wollen es auch.
So bitten wir für alle Menschen guten Willens:

Für Verantwortliche in Politik und Medien,
in Kirchen und Moscheen,
in Kindergärten und Schulen,
in Bildungseinrichtungen,
in Finanz und Wirtschaft,
in Justiz und Exekutive,
in Krankenhäusern und Sozialeinrichtungen,
in Heimen und Pflegeinrichtungen
.

Überall dort tragen Menschen dazu bei
mit Verantwortung und Fürsorge,
mit Liebe und Begeisterung,
mit Freude und Visionen,
dass das Miteinander von Menschen gelingt
und so dein Wille geschieht.

Wir danken dir dafür
und bitten um Kraft
und deinen Segen.
Amen.

Unser Vater im Himmel …

Abkündigungen:
Segen:

Der Herr segne dich und behüte dich,
der Herr lasse sein Angesicht leuchten über dir und sei dir gnädig,
der Herr hebe sein Angesicht auf dich und gebe dir Frieden.
Amen.

Orgelnachspiel: Martin Seidl: Toccata D – Dur zugeschrieben Johann Krieger (1651-1735)