Andacht aus der reformierten Erlöserkirche, Wien-Favoriten, 22. März 2020
mit Pfr. Johannes Wittich


Musik zur Einstimmung
Kolosser 2,3:

2 In Christus liegen verborgen alle Schätze der Weisheit und der Erkenntnis.

Begrüßung:

Unser Gottesdienst in der Erlöserkirche muss heute zum zweiten Mal
entfallen. Unsere Kirche ist für Andacht und Gebet geöffnet, und die hier geteilten Gedanken sollen dann auch in elektronischer Form Alle erreichen, die heute gerne hier gewesen wären. So begrüße ich euch herzlich, in welcher Form auch immer ihr heute an dieser Andacht teilnehmt.

„Weisheit und Erkenntnis“, die beiden Schlüsselbegriffe des Bibelverses zum heutigen Tag, sind auch und gerade in dieser Zeit gefragt. Wir sind dankbar für all die Menschen, die ihre Weisheit und ihr Fachwissen einsetzen – zum Wohl von uns allen. Allerdings schwirrt uns auch immer wieder der Kopf, und wir sind mit unserer Weisheit am Ende. Eine Erkenntnis kann da helfen, nämlich die, das Alles in Gottes Hand steht. In dieser Erkenntnis feiern wir gemeinsam, im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes.

Gebet:

Guter Gott!
Der Durchblick fehlt uns.
Wir fragen uns „warum“?
Sehen keinen Sinn in dem, was gerade passiert.
Haben Angst, weil wir nicht wissen,
wie sich Alles entwickeln wird.
Unsere Einsicht hat Grenzen,
die wir nur zu gut kennen.
Darum wenden wir uns an dich,
beten zu dir,
weil wir wissen:
wir werden gehört.
Mach unseren Geist klar,
hilf uns, unsere Gedanken zu ordnen,
zu sehen, was Mut macht und Hoffnung schenkt,
auch in dieser schwierigen Zeit:
dein Zuspruch, dein Wort,
dass uns erkennen lässt,
dass du in Allem da bist,
mit uns gehst.
Amen.

Lied: Evangelisches Gesangbuch 631, 1-3: Fürchte dich nicht

1. Fürchte dich nicht,
gefangen in deiner Angst,
mit der du lebst.
Fürchte dich nicht,
gefangen in deiner Angst.
Mit ihr lebst du.

2. Fürchte dich nicht,
getragen von seinem Wort,
von dem du lebst.
Fürchte dich nicht,
getragen von seinem Wort.
Von ihm lebst du.

3. Fürchte dich nicht,
gesandt in den neuen Tag,
für den du lebst.
Fürchte dich nicht,
gesandt in den neuen Tag.
Für ihn lebst du.

(T + M: Fritz Baltruweit, 1981)

1. Johannesbrief 1, 5-7a:

5 Das ist die Botschaft, die wir von ihm gehört haben und euch verkündigen: Gott ist Licht, und Finsternis ist keine in ihm.
6 Wenn wir sagen: Wir haben Gemeinschaft mit ihm, und gehen unseren Weg in der Finsternis, dann lügen wir und tun nicht, was der Wahrheit entspricht.
7 Wenn wir aber unseren Weg im Licht gehen, wie er selbst im Licht ist, dann haben wir Gemeinschaft untereinander.

Liebe Schwestern und Brüder!

„Wir haben Gemeinschaft untereinander?“ – Im Moment wohl alles andere als das!
„Social Distancing“, soziales Distanzieren ist das Schlagwort zur Zeit. Mehr noch: das Gebot der Stunde. Wir müssen zueinander auf Distanz gehen, Abstand halten, zum Wohle von uns allen. Ein Meter, das ist der Abstand, der als Mindestmaß gefordert wird. Der urwienerische Ausdruck “mach an Meter!“ bekommt dadurch eine ganz neue Bedeutung.

Uns gefällt das nicht, Abstand halten zu müssen. Auf der einen Seite sind uns unsere Mitmenschen nicht egal. Wir wollen wissen, was sie beschäftigt, was ihnen Sorgen macht, was sie brauchen, wo wir ihnen vielleicht unter die Arme greifen können. Das gehört zu unserer menschlichen Natur, Empathie ist etwas, was in uns steckt, und noch dazu ist sie ja auch Ausdruck unseres Glaubens. Die Liebe zum Mitmenschen ist der Punkt, an dem Christ oder Christin zu sein sichtbar wird, sich zeigt, was unsere Beziehung zu Gott wert ist. Aber wie ist Nächstenliebe möglich, wenn wir zum Distanz Halten gezwungen werden?

Aus der anderen Seite brauchen auch wir selbst Nähe. „Du bist so distanziert“, ist ein häufiger Vorwurf im Zwischenmenschlichen. „Du bist so distanziert“ – und das tut mir weh. Ich fühle mich nicht ernst genommen und verstanden. Dabei bräuchte ich das so sehr …

Ja, es ist nicht einfach, Distanz zu halten. Und eigentlich ist diese Distanz auch etwas, das unserem Glauben diametral widerspricht. Das wird auch im Abschnitt aus dem ersten Johannesbrief deutlich, den wir gerade gehört haben: eine christliche Gemeinde ist Gemeinschaft. Gemeinschaft mit Gott führt unbedingt zur Gemeinschaft untereinander – sonst ist etwas faul im „Draht zu Gott“. Wo das geschieht, wird auf dem „Weg in der Finsternis“ gegangen, wie das der Apostel, der Gemeindeleiter des ersten Johannesbriefs nennt.

„Social Distancing“ – eine finstere Angelegenheit also? Ja, das ist es, wir spüren es gerade. Aber zum Glauben gehört auch, mit finsteren Zeiten umzugehen. Mehr noch: Glaube hilft, in finsteren Zeiten durchzuhalten. Die notwenigen Abstriche zu machen, wenn eine größere, wichtigere Verantwortung dies verlangt.

So habe ich mit Entsetzen davon gehört, dass in den USA einige Gemeinden sich weigern, ihre Gottesdienste auszusetzen. Gerade jetzt, so wird argumentiert, brauchen Menschen geistliche Unterstützung, und da könne man nicht einfach die Kirchen zusperren. Ich frage mich schon, was das für ein „seelsorgerlicher“ Ansatz sein soll. Mit Gottvertrauen hat das nichts zu tun, auch wenn das mancherorts behauptet wird. „Du sollst den Herrn, deinen Gott, nicht versuchen“, heißt es im 5. Buch Mose. Ein Satz, den auch Jesus zitiert hat, als versucht wurde, ihn zu fahrlässigem Gebrauch seiner Kräfte zu verleiten. Nein, jetzt ist ganz sicher keine Zeit für Überheblichkeit. Weder durch Überschätzen der eigenen Fähigkeiten und Einsicht. Noch durch ein „Gottvertrauen“ das so tut, als sei Gottes Zusage, uns in Notsituationen zu helfen, auf unseren Wunsch hin abrufbar wie ein Voodoo-Zauber.

Nein – wir müssen neu entdecken, wie Nähe in Zeiten der verordneten Distanz aussehen kann. Nähe zu Gott, zunächst einmal als Einzelner, als Einzelne. Im Nachdenken, im Gebet. Zeit genug haben ja viele von uns im Moment. Die Nähe zu Gott, wenn wir einmal diese nicht gemeinsam in einem Gottesdienst erleben können. Aber in unserer stillen Andacht zu Hause unsere Mitmenschen ganz besonders in unsere Gedanken und Gebete hinein nehmen.

Und die Nähe, die durch Mitfühlen und, wo nötig, auch Mitleiden entsteht. Zu wissen: „da denkt jemand an mich, da betet jemand für mich“, ist auch schon eine Erfahrung von Nähe. „Wenn wir aber unseren Weg im Licht gehen, wie er selbst im Licht ist, dann haben wir Gemeinschaft untereinander.“ Da ist es nicht mehr wichtig, wie weit wir räumlich gerade von einander entfernt sind. Dann ist Gemeinschaft da. Amen.

Gebet: Guter Gott!

Die Nähe, die wir brauchen,
die gibst du uns.

Oft scheinst du uns weit weg zu sein.
Umso wertvoller ist dann die Erfahrung,
dass du ganz da bist.
Und dass du uns hilfst,
Brücken zueinander zu schlagen.

Du bist es, der verbindet,
auch wenn jetzt Abstand gefordert ist.

Du verbindest uns mit denen,
die es im Augenblick besonders schwer haben,
besonders gefordert sind,
wichtige Aufgaben zu erfüllen,
große Verantwortung zu tragen haben.

Für sie alle bitten wir,
um Weisheit bei Entscheidungen und Aktionen,
um Erkenntnis,
wenn sich große Fragen stellen.

Für uns alle bitten wir,
um Trost,
Zuversicht,
Hoffnung,
Vertrauen auf dich.

Und gemeinsam beten wir:

Unser Vater im Himmel …

Segen:

Der Herr segne dich und behüte dich,
der Herr lasse sein Angesicht leuchten über dir und sei dir gnädig,
der Herr erhebe sein Angesicht auf dich und schenke dir Frieden.
Amen.

Orgelnachspiel:

Postlude-cantique von Théodore Dubois, gespielt von Martin Seidl.