Predig am 13. Juli 2025 in der Erlöserkirche
PREDIGTTEXT – LUKAS 6,36-42: „Seid barmherzig, wie euer Vater barmherzig ist! Richtet nicht, und ihr werdet nicht gerichtet. Verurteilt nicht, und ihr werdet nicht verurteilt. Lasst frei, und ihr werdet freigelassen werden! Gebt, und es wird euch gegeben werden: ein gutes, festgedrücktes, gerütteltes und übervolles Mass wird man euch in den Schoss schütten. Denn mit dem Mass, mit dem ihr messt, wird auch euch zugemessen werden. Er gab ihnen auch ein Gleichnis: Kann etwa ein Blinder einen Blinden führen? Werden sie nicht beide in die Grube fallen? Kein Jünger steht über dem Meister. Jeder aber wird, wenn er ausgebildet ist, sein wie sein Meister. Was siehst du den Splitter im Auge deines Bruders, den Balken im eigenen Auge aber nimmst du nicht wahr? Wie kannst du zu deinem Bruder sagen: Bruder, komm, ich will den Splitter in deinem Auge herausziehen, während du den Balken in deinem Auge nicht siehst? Du Heuchler! Zieh zuerst den Balken aus deinem Auge, dann wirst du klar genug sehen, um den Splitter im Auge deines Bruders herauszuziehen.“ Amen. PREDIGT Liebe Gemeinde, eine ganz schöne Anforderungsliste ist das doch, die uns unser Herr Jesus da vorgibt. Schwierige Anforderungen an uns Menschen, die wir doch so gerne urteilen und verurteilen – im Kleinen, vermeintlich Harmlosen, wie im Großen, mitunter existenzvernichtenden. Gerade in unserer Zeit, wo zivilgesellschaftliche und juristische Errungenschaften wir die Unschuldsvermutung in gewissen Kreisen und bei gewissen Anschuldigungen auch mal über Bord geworfen werden, hat das Urteilen Hochkonjunktur. Da treffen diese Worte Jesu einen Nerv – der wohl zu allen Zeiten empfindlich war. Nicht urteilen, nicht richten, andere nicht nach ungerechten Kriterien bemessen, den Balken vor dem eigenen Schädel, den Splitter im eigenen Auge sehen. All das war immer gültig und richtig, ist’s heute vielleicht mehr denn je. Und gleichzeitig befällt uns doch die Ahnung; daran kann sich doch kein Mensch halten. Selbst wenn wir das öffentliche Urteilen und Verurteilen einstellen, selbst wenn wir nicht hinter vorgehaltener Hand schlecht über Andere sprechen, selbst wenn wir uns redlichst bemühen, im Messen immer gleiches Maß anzuwenden – spätestens in unseren Gedanken und Herzen, da werden wir das Urteilen und Richten und Ungerechtsein nicht abstellen können. Bei allem Bemühen – am Ende sind wir Menschen und sind in der Tiefe unseres Wesens, in den dunklen Winkeln unserer Herzen, dann eben doch – zumindest manchmal – ungerecht und richtend, behandeln ungleich, stellen uns über Andere. Wenn nicht in Taten, dann doch sicherlich in Gedanken. Das können wir sicherlich nicht wegreden, nicht beiseite wischen, und sollten es auch nicht ausblenden oder ignorieren. Sondern uns bemühen, diesen Anforderungen in unserem Leben gerecht zu werden. Gerade dann, wenn es Zumutungen sind – wenn wir eigentlich gewillt wären, zu urteilen. Wenn wir wissen, dass wir im Recht sind, dass unser Maß angemessen ist, unsere Einschätzung stimmt – gerade und besonders dann ist es die Zumutung Jesu, dass wir zuerst und im Ersten auf den Balken schauen, der vor unser aller Köpfen ist. Ist das schwierig? Sicherlich. Ist das immer unsere intuitive Reaktion? Gewiss nicht. Aber es ist das, wozu wir in unserem Christ-Sein aufgerufen sind. Aber mit einem gewissen Fixpunkt, von einer gewissen Richtung her gedacht und verstanden. Denn über all dem – ja, wenn wir dem Verlauf des Textes folgen, vor all dem – steht die Barmherzigkeit. Der Aufruf zur Barmherzigkeit geht all dem vor, gibt all dem Sinn und Orientierung. Dabei appelliert Jesus nicht einfach an einen Grundinstinkt des Menschen; denn dass Menschen tendenziell nicht barmherzig, sondern gnadenlos sind, war zu allen Zeiten bekannt und ist es auch heute noch. Jesus spricht eine religiöse Wahrheit aus, eine theologische Herleitung der Forderung nach Barmherzigkeit – „Seid barmherzig, wie auch euer Vater barmherzig ist“. Das heißt: sei nicht so, weil es angeblich deinem Naturell als Mensch entspricht, oder weil es sittlich-moralisch geboten ist – das gilt und galt nicht zu allen Zeiten. Sondern: Weil dein Vater im Himmel, dein Gott, barmherzig ist, sich deiner erbarmt und dich das wissen und erfahren lässt, verhalte dich so gegenüber den Menschen, denen du begegnest. Die Barmherzigkeit ist ein Ergebnis der Dankbarkeit gegenüber Gott. Ein Resultat des Erkennens seines Erbarmens – und damit weder ein Akt menschlicher Gnade, noch eine natürliche intuitive Handlung. Wer wirklich barmherzig sein will, der muss davor die Barmherzigkeit Gottes erfahren haben, von ihr ergriffen und bewegt sein. Das können auch wir uns fragen lassen – warum sind wir barmherzig, warum zeigen wir Erbarmen, sind gnädig und großzügig? Weil wir Lohn erhoffen – im Himmel oder schon hier auf Erden? Oder weil wir aus Dankbarkeit gegenüber unserem gnädigen Gott gar nicht anders können als auch Barmherzigkeit und Milde walten zu lassen?. Vorhin haben wir Frage und Antwort 86 aus unserem Heidelberger Katechismus gehört – das ist die erste der Fragen aus dem 3. Teil der Bekenntnisschrift, die unter dem Titel „Von der Dankbarkeit“ steht – und drückt darin genau diese Haltung gegenüber Gott aus, die sich selbstverständlich und notwendigerweise auch gegenüber den Mitmenschen und Nächsten erweisen muss. Deswegen mahnt Jesus: fang bei dir selber an, wenn es daran geht, die Fehler der Anderen zu sehen und wahrzunehmen. Schau dir doch einmal selber an, was du in deinem Leben alles so an Unperfektem, Fehlerhaftem, Sündhaftem hast – dann wirst du schon darauf kommen, dass du um kein Deut besser bist, als die Menschen, die du gerade noch kritisieren wolltest. Das wäre aber ja zu verzweifeln – stünde da nicht eben diese Zusage der Barmherzigkeit Gottes voran!. Du brauchst nicht übereifrig bei Anderen nach Splittern in den Augen zu suchen, weil Gottes Barmherzigkeit jeden Splitter, jede Sünde, überstrahlt und vergibt. Du musst über deine eigenen Balken wohl Bescheid wissen, sie dir bewusst machen und sie im Gebet und Bekenntnis vor Gott bringen – aber du brauchst über sie nicht zu verzweifeln, weil Gott sie dir barmherzig und gnädig vergibt und immer wieder neu vergeben wird. Das dürfen wir immer glauben und als Gewissheit haben. Das dürfen wir aber auch ganz besonders erfahren, wenn wir nachher dann das Heilige Abendmahl feiern – zu dem eben diese Zusage der Barmherzigkeit, der Gnade, der Vergebung Gottes gehört. Zu dem gehört, dass wir unsere Verfehlungen und Sünden bedenken und vor Gott bringen – nicht, um ein schlechtes Gewissen zu haben, sondern um die Barmherzigkeit Gottes zugesagt zu bekommen und sie schmeckend und sehend zu erleben. „Seid barmherzig, wie euer Vater barmherzig ist!“ – das dürfen wir uns zusagen lassen. Darauf dürfen wir vertrauen, im Leben wie im Sterben. Das dürfen wir sinnlich erleben in der Feier des Abendmahls. Barmherzig sein – weil unser guter Gott uns gegenüber seine Gnade erwiesen hat und noch erweist. Aus dieser Kraft, aus dieser gläubigen Gewissheit dürfen wir leben und handeln. Als Kraftquelle dafür, auf das Richten und Verurteilen zu verzichten – auch wenn es so in den Fingern juckt. Als Kraftquelle dafür, die eigenen Balken wahrnehmen zu können, ohne daran zu verzweifeln, dass wir alle sündige und unperfekte Menschen sind. Als Kraftquelle dafür, einander beim Tragen der vielen Lasten, die das Leben auflädt, zu helfen und sie den Anderen auch einmal abzunehmen. Gebe Gott, dass wir aus der Kraft seiner Barmherzigkeit leben können, sie erfahren und spüren – immer wieder neu. Amen. Leopold Potyka |